Beleghebamme und Belegarzt
Fehler bei der Geburtsleitung müssen oft in höchster Instanz geregelt werden in der Praxis richtig nutzen
Wird ein Kind infolge von Fehlern bei der Geburtsleitung geschädigt, sind diese Fehler nicht selten mehreren Personen zuzuordnen. Welcher Anteil auf die Einzelnen entfällt, müssen dann oft Gerichte entscheiden – wie in diesem Fall der Bundesgerichtshof.
Nur sehr selten zeigen sich nach einer Geburt Schädigungen des Kindes. Noch seltener sind diese Folge eines Behandlungsfehlers bei der Geburtsleitung. Wenn dieser Fall jedoch einmal eintritt, können alle, denen bei der Geburtsbetreuung ein Behandlungsfehler unterlaufen ist, zur Zahlung von Schadensersatz und Schmerzensgeld verpflichtet sein.
Kommt es zu einem zivilgerichtlichen Verfahren, werden in der Regel alle Beteiligten verklagt und gegebenenfalls alle gemeinschaftlich zur Zahlung verurteilt, ohne dass eine Aussage dazu getroffen wird, wie die interne Aufteilung der Zahlungen zu erfolgen hat. Ein Urteil des Bundesgerichtshofs vom 6.12.2022 (AZ: ZR 284/19) hat sich genau mit dieser Frage befassen müssen.
Geburtsverlauf
Der Entscheidung liegt folgendes Geburtsgeschehen zugrunde: Die werdende Mutter wurde zwölf Tage nach dem errechneten Geburtstermin nach Einsetzen der Wehentätigkeit nachts um 2.35 Uhr stationär aufgenommen und wurde auf der Station zunächst durch die Beleghebamme betreut. Nach Verlegung in den Kreißsaal, Anlegen eines DauerCTG und Blasensprung um 5.15 Uhr zeigte sich um 5.42 Uhr ein suspektes CTG.
Die Hebamme gab daraufhin ein wehenhemmendes Mittel und verständigte um 5.48 Uhr den belegärztlichen Gynäkologen, der nach Eintreffen um 6.10 Uhr und einer Untersuchung das Anlegen eines Wehentropfs anordnete, was die Hebamme umsetzte. Daraufhin ließ er sich von der Nachtschwester zum Schlafen ein Patientenzimmer zuweisen, ohne dass dort eine Verbindung per Notglocke bestand oder die Hebamme über den Aufenthaltsort unterrichtet wurde.
In der Folge kam es mehrfach zu Bradykardien, woraufhin die Hebamme um 6.30 Uhr den Klingelruf betätigte, ohne dass der Arzt erschien. Unter Fortführung des Wehentropfs zeigte sich ein hoch pathologisches CTG.
Um 7.00 Uhr erschien der Arzt wieder im Kreißsaal, ließ den Wehentropf abhängen und leitete eine Wehenhemmung ein. Um 7.15 Uhr wurde die Entscheidung zur Notsectio getroffen und das Kind um 7.53 Uhr per Sectio entbunden. Um 8.08 Uhr wurde der Pädiater der einige Kilometer entfernten Klinik gerufen, der nach Eintreffen um 8.43 Uhr einen nicht messbar niedrigen Blutzuckerspiegel feststellte und eine Glukosedauerinfusion begann.
Das Kind ist infolge der Sauerstoffunterversorgung bei der Geburt und der anschließenden Hypoglykämie schwerstbehindert.
Haftungsgemeinschaft von Hebamme und Arzt
Aufgrund verschiedener Fehler bei der Geburt sowohl des Gynäkologen als auch der Hebamme sind beide – gerichtlich bestätigt – verpflichtet, an das Kind sowie die Kranken und Pflegekasse Schadensersatz zu zahlen.
Werden Hebamme und Gynäkologe gemeinschaftlich zur Zahlung verurteilt, so steht es im Belieben der Geschädigten, von wem sie tatsächlich die Zahlung fordern (§ 421 BGB). Das Gesetz sieht es zum Schutz der Geschädigten vor, dass sie die vollständige Summe auch nur von einer/einem Beteiligten verlangen können, obwohl es mehrere Beteiligte gibt. In einem solchen Fall wird es in der Folge aber zu einer Abklärung kommen, wie die Last der Zahlungen im Innenverhältnis zwischen den Beteiligten verteilt werden muss. So hat im vorliegenden Verfahren die Berufshaftpflichtversicherung des Gynäkologen, die bereits einen Großteil der Schadensersatzforderungen an das geschädigte Kind gezahlt hatte, die Hebamme auf Übernahme von 50 Prozent der Zahlungen verklagt.
Infolgedessen hatte sich das Gericht mit der Frage zu befassen, wie die Haftung zwischen Hebamme und Gynäkologen zu verteilen ist. Bei Beantwortung dieser Frage muss das Gericht auf die Umstände des Einzelfalls abstellen und die individuellen Verursachungs- und Verschuldensbeiträge berücksichtigen (§§ 426 I, 254 I BGB). Entscheidend ist, inwieweit die einzelnen Beteiligten zur Verursachung der für die Haftung maßgeblichen Umstände beigetragen haben und in welchem Maß sie ein Verschulden trifft.
Fehler des Gynäkologen
Dazu hat das Gericht zunächst die Behandlungsfehler des Gynäkologen betrachtet. Als Behandlungsfehler des Gynäkologen wird die Anordnung des Wehentropfs bei seinem Erscheinen um 6.10 Uhr bewertet. Auf dem CTG seien ab 5.55 Uhr Herztonabfälle verzeichnet, ohne dass eine Wehentätigkeit sichtbar war. Eine ausreichende Versorgung des Kindes sei in dieser Situation nicht zuverlässig gesichert, was eine Wehenstimulation verbiete.
Ein weiteres Fehlverhalten wird darin gesehen, dass der Arzt in dem kritischen Zeitraum von 6.10 Uhr bis 7.00 Uhr seine Erreichbarkeit nicht sichergestellt habe. Weder sei er in dem Patientenzimmer, in dem er sich zur Ruhe gelegt habe, per Notglocke zu erreichen gewesen, noch habe er die Hebamme von seinem Aufenthaltsort unterrichtet. Das Gericht nimmt sodann eine Gesamtbetrachtung dieser beiden Fehler vor und bewertet sie nicht lediglich als einfachen, sondern als groben Behandlungsfehler.
Zudem wird dem Arzt angelastet, dass die EEZeit mit 43 Minuten den Mindeststandard von 20 Minuten weit überschritten habe. (Das Landgericht hatte die Dauer fälschlicherweise mit 43 Minuten angegeben, das Oberlandesgericht die Zahl auf 38 Minuten korrigiert.) Schließlich wird ein weiterer grober Behandlungsfehler darin gesehen, dass der Gynäkologe den Pädiater erst 15 Minuten nach der Geburt verständigt habe und nicht – wie es erforderlich gewesen wäre – zeitgleich mit der Indikationsstellung zur Sectio.
Fehler der Hebamme
Dem sind die Pflichtverletzungen der Hebamme gegenüberzustellen. Das Anlegen des Wehentropfs um 6.10 Uhr, dessen Anordnung dem Arzt vorgeworfen wird, wird der Hebamme nicht angelastet. Da die Geburtsleitung zu diesem Zeitpunkt beim Arzt gelegen habe, sei sie als Gehilfin den Weisungen des Arztes unterworfen gewesen und habe deshalb auf die Richtigkeit der Anordnung vertrauen dürfen. Bei dem vergeblichen Bemühen um die Hinzuziehung des Gynäkologen habe sie jedoch hartnäckiger sein und etwa eine Krankenschwester mit der Suche betrauen müssen. Vor allem aber wird es als pflichtwidrig angesehen, dass die Hebamme bei Nichterreichbarkeit des Arztes, spätestens ab 6.35 Uhr, den Wehentropf nicht selbst entfernt und eine Tokolyse eingeleitet habe.
In dieser Situation, in der der Arzt trotz Notwendigkeit nicht erreichbar und deswegen nicht zugegen war, habe sie sich nicht mehr an die zuvor gegebene Weisung gebunden fühlen dürfen. Aufgrund des Ausbleibens des ärztlichen Dienstes sei die Eigenverantwortlichkeit wiederaufgelebt, da die Hebamme als einzige Kraft mit geburtshilflicher Ausbildung eine Schädigung des Kindes habe verhindern können. Unter Verweis auf die Hebammenordnung führt das Gericht aus, dass ein Ergreifen der notwendigen Maßnahmen bei Abwesenheit des Arztes auch zu den Tätigkeiten in eigener Verantwortung gehöre.
Haftungsverteilung
Bei der Abwägung der Haftungsanteile von Hebamme und Arzt hat das Gericht auf die Zahl und die Schwere der Fehler abgestellt, von denen drei – davon zwei grobe – dem Gynäkologen zuzuschreiben sind. Es hat weiter berücksichtigt, dass der Arzt die Notfallsituation durch sein fehlerhaftes Handeln erst herbeigeführt habe, die zu meistern die Hebamme nicht in der Lage gewesen sei. Insoweit sieht das Gericht den Schwerpunkt des fehlerhaften Handelns beim Arzt. Dessen Verursachungsanteile überwögen deutlich.
Da die Hebamme in Kenntnis der Pathologie des CTG den Wehentropf aber habe weiterlaufen lassen und keine Wehenhemmung eingeleitet habe, trete ihr Verursachungsbeitrag aber nicht völlig zurück. Letztlich hat das Gericht eine Aufteilung der Haftung im Innenverhältnis zwischen Gynäkologe und Hebamme in einem Verhältnis von 80 Prozent zu 20 Prozent zulasten des Arztes für angemessen erachtet.
Fazit
Die Entscheidung des Bundesgerichtshofs macht deutlich, dass es bei einer gemeinsamen Verurteilung von Beleghebamme und Belegarzt im Belieben des Geschädigten liegt, wer die Zahlung an ihn vornimmt. Der in der Folge vorzunehmende interne Ausgleich zwischen den Beteiligten wird in der Regel durch die jeweiligen Haftpflichtversicherer angestoßen. Dabei kommt es auf den jeweiligen konkreten Verursachungs und Verschuldensbeitrag an.
An den beschriebenen Anforderungen im Umgang mit dem Wehentropf (Anordnung und Beendigung) zeigt sich wieder einmal die Herausforderung für die Hebamme, zwischen dem Tätigwerden auf ärztliche Anordnung einerseits und eigenverantwortlichem Handeln andererseits wechseln zu müssen.
Erstveröffentlichung im Hebammenforum 4/2024; 25: 41–43.
Johannes Jaklin