Top Themen ESG Services Entwicklung von Versicherungsprodukten Branchen Sozialwirtschaft Kirche Versicherungen Betrieb & Eigentum Gebäude Inhalt

Neue Police hilft, Wohnraum zu schützen

Die innovative Versicherungslösung „Erweiterter Mieterschutz“ bietet wirtschaftliche Sicherheit für die Vermieter und Mieter, zudem steht soziale Verantwortung.

Wohnungslosigkeit ist ein drängendes soziales Problem in Deutschland, das viele Menschen betrifft. Dr. Jens Rannenberg, Vorstandsmitglied der Dachstiftung Diakonie und Vorstandsvorsitzender des Evangelischen Bundesfachverband Existenzsicherung und Teilhabe e. V. (EBET), setzt sich seit Jahren intensiv für die Belange wohnungsloser Menschen ein. In Kooperation mit der ­Ecclesia Gruppe sucht er nach Antworten auf die drängende Frage: Wie kann ungenutzter privater Wohnraum so versichert werden, dass Eigentümer sogar bereit sind, diesen an wohnungslose Menschen auch ohne positive Schufa-Auskunft zu vermieten? In einem intensiven Prozess ist die innovative Versicherungslösung „Erweiterter Mieterschutz“ entstanden. Dieses Produkt bietet wirtschaftliche Sicherheit für die Vermieter und Mieter, zudem steht soziale Verantwortung. 

Im Interview sprechen Dr. Jens Rannenberg und Ansgar Kentrup, Mitglied der Geschäftsführung des Ecclesia Versicherungsdienstes, darüber, wie die Versicherungslösung entstand, welche Herausforderungen gemeistert wurden und welche Vorteile sie für alle Beteiligten bietet. 

Herr Dr. Rannenberg, Sie setzen sich dafür ein, dass Wohnraum besonders für einkommensarme Menschen und/oder Menschen in schwierigen Lebenssituationen geschaffen wird. Warum liegt Ihnen das Thema besonders am Herzen?

Dr. Jens Rannenberg: Die Wohnungslosigkeit ist in Deutschland ein großes Thema. Ich beschäftige mich bereits seit meinem Eintritt 2006 in die Diakonie mit dem Thema Wohnungslosigkeit. Die Diakonie ist einer der größten und ältesten Anbieter, die sich für die Wohnungslosen einsetzen. Auch der EBET engagiert sich besonders für Menschen ohne Wohnungen und ist bundesweit als Wohnungsnotfall- und Straffälligenhilfe aktiv. Nach einer Hochrechnung zum Stichtag am 30. Juni 2023 waren laut der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAG W) 447.000 Menschen wohnungslos. Das Statistische Bundesamt wiederum hat zum Stichtag am 31. Januar 2024 eine Zahl von 372.000 untergebrachten wohnungslosen Menschen gezählt. Es ergibt sich somit eine Differenz von 75.000 Wohnungslosen. Diese kommt dadurch zustande, dass die BAG W in ihre Hochrechnung richtigerweise auch diejenigen inkludiert, die vor-
übergehend bei Freunden und Verwandten unterkommen oder tageweise ganz ohne Unterkunft auf der Straße leben. 

Hinzukommen aktuell viele Menschen aus dem arabischen Raum sowie Syrien und der Ukraine, die keinen Wohnraum finden. Von den Obdachlosen sind circa 30 Prozent weiblich. Da viele wohnungslose Menschen Angebote von Einrichtungen annehmen, wissen wir, dass zunehmend jüngere und auch ältere Menschen keinen Wohnraum finden. Der Wohnungsmarkt bietet seit langem nicht mehr genug bedarfsgerechten und bezahlbaren Wohnraum. Allerdings gibt es genügend Wohnungen in Deutschland. Diese wollen wir gerne für diese Gruppe nutzbar machen. 


Was genau sind die Probleme der betroffenen Menschen?

Dr. Jens Rannenberg: Menschen, die auf der Straße leben, erhalten keine ausreichende medizinische Versorgung. Sie sind weiteren Gefahren ausgesetzt wie Gewalt und Diebstahl. Die unsichere Situation, in der sie leben, bedingt häufig, dass sie Alkohol oder Drogen konsumieren, unter Arbeitslosigkeit leiden und psychische Probleme haben. Die Wohnungslosigkeit kann unterschiedliche Ursachen haben – sie kann auch ganze Familien treffen. Grundsätzlich ist es wichtig, diesen Menschen möglichst schnell eine Wohnung zu vermitteln, damit sie sich wieder stabilisieren und einer Arbeit nachgehen können. 


„Ein solcher Prozess bedarf etwas Zeit, da wir ein abstraktes Risiko in den Versicherungsverträgen abbilden müssen und dies spartenübergeifend. Wir als Versicherungsmakler sind in diesem Fall die Übersetzer, um das Risiko in eine Versicherungslösung zu übertragen.“

Wie kann privates Wohnraumpotenzial gehoben werden?

Dr. Jens Rannenberg: In Deutschland gibt es genügend Wohnraum. Dieser muss allerdings gehoben werden. Zwei Drittel der Wohnungen gehören Eigentümern, die nicht mehr als fünf Wohnungen in ihrem Bestand haben. Besonders diese Eigentümer müssen angesprochen werden. 

Ein Vorbild ist das sogenannte Karlsruher Modell. Die Stadt Karlsruhe ist damit seit vielen Jahren erfolgreich. Um privaten Wohnraum zu nutzen, schließt die Stadt zunächst mit den Eigentümern einen Vertrag. Diese erhalten bei Bedarf einen Sanierungszuschuss und eine befristete Mietausfallgarantie. Zudem begleiten Sozialpädagogen die Mieter. Das Modell in Karlsruhe geht auf. Die Eigentümer bekommen damit Sicherheit. Auch meine Beobachtungen zeigen, dass viele Eigentümer meinen, dass sie nur schlechte Erfahrungen mit wirtschaftlich Benachteiligten machen. Dies stimmt so aber nicht. Aber es gibt eben immer wieder Fälle, in denen dann Folgekosten getragen werden, die manchmal zwischen 20.000 bis 50.000 Euro sein können. Und diese Fälle sprechen sich herum und schaffen Unsicherheit. Um diese Schäden abzusichern, sind wir an die ­Ecclesia herangetreten. 


Was ist passiert als Sie die Anfrage von Herrn Dr. Rannenberg erhalten haben, Herr Kentrup? Wie haben Sie sich der Problemlösung genähert?

Ansgar Kentrup: Bei einem Termin im Juni 2023 erläuterte Herr Dr. Rannenberg das zunehmende Problem: Wohnungslosigkeit und Wohnungsnot von Benachteiligten. Derzeit nicht genutzter privater Wohnraum könnte ein Teil des Problems lösen und verwies auf das Karlsruher Modell. Anschließend philosophierten wir über mögliche Versicherungslösungen. 

 

Herr Dr. Rannenberg, wie konnten Sie bei der Lösung des Problems unterstützen?

Dr. Jens Rannenberg: Ich stand eng mit Ansgar Kentrup und Katrin Gutseel vom Produktmanagement im Austausch und konnte einige Zahlen liefern, die aus einer Studie des EBET und der Alice Salomon Hochschule Berlin von 2022 stammen und die wir im EBET zusammengetragen haben. Zudem ging es darum, wie der Markt aussieht und ob es einen Bedarf für ein Versicherungsprodukt gibt, aber auch, ob die Skalierung interessant ist. Das Ergebnis ist ein lukratives Paket. Es soll dazu beitragen, das Wohnraumpotenzial zu heben und zeigen, dass auch Mieter interessant sein können, die nicht finanziell abgesichert sind und Probleme haben. Wir möchten damit eine zukunftsfähige Lösung schaffen – ein „Rundum-Sorglos-Paket für den Einstieg“.


Herr Kentrup, wie sah der weitere Prozess aus?

Ansgar Kentrup: Das Problem musste zunächst konkretisiert werden. Die Frage war, wie Risiken privater Vermieter abgesichert werden müssen, sodass die Eigentümer bereit sind, diesen an wohnungslose Menschen – vermeintlich schlechtere Mieter – zu vermieten. Im Folgenden wurde skizziert, wie das Risiko aussieht und wie eine Versicherungslösung aussehen könnte. Hierbei ist für den potenziellen Versicherer insbesondere die Größe des Marktes von Bedeutung. Besteht die Wahrscheinlichkeit einer großen Nachfrage, steigt das Interesse. Für eine weitere Konkretisierung haben wir das Produktmanagement involviert und es gab erste Gespräche mit verschiedenen Versicherern. Neben rechtlichen und wirtschaftlichen Aspekten spielten bei allen Ansprechpartnern auch die soziale Verantwortung von Beginn an eine große Rolle. Herr Dr. Rannenberg war bei diesen Verhandlungen im Hintergrund unser Sparringspartner. Wir haben uns immer wieder mit ihm abgestimmt, damit die Versicherungslösung passgenau wird.

Dr. Jens Rannenberg: Die Idee war, eine Versicherungslösung zu schaffen, die die Eigentümer vor finanziellen Schäden absichert. Das neu geschaffene Produkt bietet noch viel mehr als das Karlsruher Modell. Denn die Police kann zum Beispiel, wenn vom Kunden gewünscht, auch einen Rechtsschutzbaustein beinhalten. 


Die Entwicklung eines solchen Produkts dauert. Was waren die Herausforderungen?

Ansgar Kentrup: Ein solcher Prozess bedarf etwas Zeit, da wir ein abstraktes Risiko in den Versicherungsverträgen abbilden müssen und dies spartenübergreifend. Wir als Versicherungsmakler sind in diesem Fall die Übersetzer, um das Risiko in eine Versicherungslösung zu übertragen. Der Versicherer reguliert später auf Basis der Vertragswerke. Ein Problem bei dem Produkt „Erweiterter Mieterschutz“ ist die Gruppe, die versichert werden soll, bei denen die Versicherer ein erhöhtes Risiko sehen. 

Wie haben Sie die Versicherer überzeugt?

Ansgar Kentrup: Wir haben Verständnis für das grundsätzliche Problem und die Rahmenbedingungen geschaffen, die Risiken definiert, die Versicherungslösung skizziert und die Chancen für alle Beteiligten in den Fokus gerückt. Die soziale Verantwortung war – wie bereits erwähnt – darüber hinaus ein entscheidendes Argument. 


Wie sieht die Lösung jetzt genau aus, die sie bieten können? 

Ansgar Kentrup: Kurz gesagt: die Versicherungslösung reduziert die Risiken privater Vermieter auf ein Minimum, benachteiligte Personen werden durch diese Lösung auf eine Stufe und besser wie sehr solvente Mieter gestellt. 


Was sind die Vorteile für die Beteiligten?

Ansgar Kentrup: Es gibt eine Vielzahl an Vorteilen: Eine sozial schwache Person ohne positive Schufa-Auskunft bekommt eine Wohnung und macht damit den ersten Schritt zurück in ein geordnetes Leben. Einrichtungen in der Wohnungslosenhilfe können Ihren Aufgaben der Betreuung nachkommen. Private Vermieter vermieten ihr Eigentum mit geringem Risiko. Der Versicherer nimmt soziale Verantwortung wahr und kann unter Umständen wirtschaftliche Vorteile erlangen. 


Wenn Menschen wieder Wohnraum gefunden haben, wie verändert sich ihr Leben? 

Dr. Jens Rannenberg: Unser Ziel ist es, Menschen aus der Obdachlosigkeit zu holen und ihnen dauerhaft eine Wohnung zur Verfügung zu stellen. Sie sollen wieder arbeitsfähig und Teil der Gesellschaft werden. Dabei werden sie auch von Sozialarbeitern begleitet. Sie haben dann die Möglichkeit, die Versicherung und den Mietvertrag selbst zu übernehmen und wieder eigenständig zu werden. 


Eine persönliche Frage: Was macht so ein Projekt mit Ihnen, zumal Sie mit Ihrer Lösung unmittelbar Menschen helfen können, Herr Kentrup?

Ansgar Kentrup: Mich begeistert, dass wir Personen, die aus unterschiedlichen Gründen in eine missliche Situation gekommen sind, unterstützen können zurück ins Leben zu finden und so Perspektiven schaffen. Wir übernehmen damit ein Stück soziale Verantwortung, das ist sehr befriedigend.

Gemeinsam gegen Wohnungslosigkeit

Wie das Bundesministerium für Wohnen, Stadtentwicklung und Bauwesen auf seiner Website berichtet, verfolgt die Bundesregierung das Ziel, die Obdach- und Wohnungslosigkeit in Deutschland bis 2030 zu überwinden. Dies kann laut des „Nationalen Aktionsplans Wohnungslosigkeit und Wohnungslosenberichterstattung“ nur gelingen, wenn Bund, Länder und Kommunen partnerschaftlich mit allen Akteuren aus Zivilgesellschaft, Wirtschaft und Wissenschaft zusammenarbeiten.

Laut der Definition des Wohnungslosenberichterstattungsgesetzes (WoBerichtsG) sind Menschen wohnungslos, wenn die Nutzung einer Wohnung durch eine Person oder eine Mehrheit von Personen desselben Haushalts weder durch einen Mietvertrag oder einen Pachtvertrag noch durch ein anderes Recht abgesichert ist oder eine Wohnung einer Person aus sonstigen Gründen nicht zur Verfügung steht.


„Wohnungslosigkeit kann unterschiedliche Ursachen haben – und auch ganze Familien treffen. Grundsätzlich ist es wichtig, diesen Menschen möglichst schnell eine Wohnung zu vermitteln.“